Chancenlos in Amerika
(eine der Geschichten, die ich fuer die "Wiener Zeitung", ueber Hurrikan Katrina gemacht habe, Dienstag, 13. September 2005)
Houston. (hw) Viele Amerikaner und Europäer konnten ihren Augen nicht trauen: Die Bilder aus New Orleans, die von den großen Fernsehstationen in ihre trauten Heime geliefert wurden, erinnerten mehr an Flüchtlingsleid in Afrika, denn an eine Naturkatastrophe in den USA. Der Hurrikan "Katrina" und die darauf folgende Flutwelle hat eine Wahrheit an die Oberfläche gespült, die viele nicht glauben konnten und wollten: Im reichsten Land der Welt leben Menschen in bitterster Armut, die meisten davon sind Schwarze. Mehr als 35 Millionen, schätzt man in den USA.
Die Mehrheit der Gestrandeten, die in den großen Notunterkünften in Texas untergekommen sind, stammt aus den Ghettos und heruntergekommen Vororten von New Orleans. Denn New Orleans ist nicht nur die Stadt des Jazz, des reizvollen französischen Quartiers und seiner Cuisine, sondern sie ist mit seiner schwarzen Bevölkerungsmehrheit von fast 70 Prozent auch eine der ärmsten Städte der USA. 25 Prozent der schwarzen Familien und 40 Prozent der Minderjährigen leben unter der Armutsgrenze.
500 Dollar pro Monat
Carmalita Hernandez ist ein Beispiel von vielen: "Ich habe von 500 Dollar im Monat gelebt", erzählt sie. Die 24-Jährige ist eine der vielen Leidtragenden der "Katrina"-Katastrophe, die New Orleans nicht verlassen konnten, weil sie kein Auto und kein Geld hatten. "Ich habe Geld für eine kleine Kirche in unserer Nachbarschaft gesammelt. Dafür haben sie mir dann immer wieder etwas zugesteckt", erzählt die High-School-Absolventin, die wohl auch aufgrund ihrer Familiengeschichte wenig Chancen auf sozialen Aufstieg hatte.

"Mein Vater starb als ich zehn war, meine Mutter war oft arbeitslos und es gab niemanden, der mir gesagt hat, was ich mit meinem Leben anfangen soll." Sie war erst 20, als sie einen Mexikaner heiratete. Drei Jahre und drei Fehlgeburten später ließ sie sich wieder scheiden. "Mein Mann fing an zu trinken und Drogen zu nehmen", erklärt sie diesen Schritt.

Carmalita mit dem "Soldatenessen", das sie im Superdome in New Orleans bekommen haben.
Carmalita lebt seit einer Woche im Houstoner "Astrodome", der größten Notunterkunft in Texas. Und das ganz ohne Familie. Ihre Mutter starb vor einem Jahr an Krebs. "Ich habe sechs Tage nur auf meiner Luftmatratze gesessen und geheult", gesteht Carmalita, obwohl sie froh ist, wenigstens lebend hier angekommen zu sein. Sie zählt zu den Tausenden Evakuierten aus dem wohl inzwischen weltbekannten "Superdome" von New Orleans.
"Meine schwere Kindheit und die unschönen Dinge, die ich bis jetzt erlebt habe, haben mich stark gemacht. Sonst hätte ich im Superdome wohl nicht überlebt", beschreibt sie die "Hölle von New Orleans". Sie war ganze fünf Tage dort. "Irgendwann haben die Wände im Superdome zu Schwitzen begonnen, weil die Ausdünstungen der vielen Mensch nicht abziehen konnten", meint sie.
Sie erzählt auch vom bestialisch Gestank, von blut- und kotverschmierten Sitzen und dem Müll, der überall herumlag. Sie beschreibt auch das Ende jenes Mannes, der ein dreijähriges Kind vergewaltigt und getötet hatte und dann mit seinem eigenen Tod bezahlen musste. Auch wird sie das Gesicht jenes Selbstmörders nie vergessen, der von der letzten Tribüne des "Superdomes" gesprungen war und am Spielfeld elendiglich verblutete.
"Außer meinem Bibliotheksausweis habe ich nichts mehr, nicht einmal ein Bild meiner Mutter. Ich weiß nicht, wohin ich gehen und was ich machen soll", sagt sie, "vielleicht bleibe ich hier in Houston, suche mir einen Job oder gehe wieder zur Schule". Sie zündet sich eine Zigarette an, greift an ihre Halskette, an der ein großes goldenes Kreuz hängt, und lächelt zuversichtlich: "Ich hoffe, dass Gott mir den richtigen Weg weisen wird."