(eine der Geschichten, die ich fuer die "Wiener Zeitung", ueber Hurrikan Katrina gemacht habe, Dienstag, 13. September 2005)
Houston. Wenn man den "Astrodome" betritt, steigt einem ein spezieller Geruch in die Nase. Er ist nicht streng, eher süßlich. Wenn Armut im reichsten Land der Welt einen Geruch hätte, dann würde sie vielleicht so riechen, kommt es einem unweigerlich in den Sinn. Der "Astrodome" und das gegenüberliegende "Reliant Center" formieren den "Reliant Park" im Süden von Houston. Normalerweise finden hier Autoshows, Freizeitmessen und Rodeos statt. Seit zwei Wochen aber bevölkern nicht Vertreter der Auto- oder Tourismusindustrie die riesigen Hallen der beiden gräulichen Zementkolosse, sondern Tausende Überlebende der Hurrikan-Katastrophe an der Golfküste der USA.
"Vor einer Woche waren hier noch 20.000 Menschen untergebracht. Diese Zahl hat sich glücklicherweise auf 8500 reduziert", erklärt Guy Rankin, Chef des Houstoner Wohnungsamtes. "Viele wurden von ihren Familien oder Freunden abgeholt, sind in Hotels untergebracht oder haben bereits neue Wohnungen bezogen."
Um in den "Relient Park" zu gelangen, muss man zwei von Polizisten bewachte Checkpoints passieren. Einmal in den riesigen Gebäude-Komplex gelangt, fällt dem Besucher sofort die große US-Flagge ins Auge. Die "Old Glory", wie sie von den Amerikaner stolz bezeichnen wird, hängt derzeit auf Halbmast.
Im "Reliant Center", der modernen Messehalle, geht es geschäftig zu. Lange Schlangen bilden sich vor den Büros der staatlichen und lokalen Behörden: Die Menschen warten geduldig, um sich bei der US-Krisenmanagementbehörde (Fema) zu registrieren, um ihre Kinder in Schulen einzuschreiben, um Essensmarken zu bekommen, um bei der Suche nach einer Wohnung beraten zu werden oder um beim Roten Kreuz ihr Startkapital von 2000 Dollar abzuholen.
Manchmal müssen die Hilfesuchenden bis zu fünf Stunden warten, um an die Reihe zu kommen. Auch an den Computern, die bei der Suche nach vermissten Familienmitgliedern oder nach einem Job wichtige Dienste leisten, herrscht dichtes Gedränge.
Eine Stadt in der Stadt
Im "Reliant Center" gibt es eine Krankenstation, eine Beratungsstelle für anonyme Alkoholiker und ein Servicecenter der Stadt Houston, das Müttern hilft, Unterhaltszahlungen für ihre Kinder einzutreiben. Vor dem Eingang C des Schlafsaals verpassen zwei Friseure fließbandartig einem Flüchtling nach dem anderen einen neuen Haarschnitt. Vor den zwei einzigen Fernsehern stehen Männer und sehen sich Sportsendungen an. Die Schalter des "Astrodomes", an denen sonst Eintrittskarten für Veranstaltungen verkauft werden, fungieren nun als Postamt. Hier werden Briefe oder Geldsendungen verteilt und Adressänderungen vorgenommen. Von der staatlichen Postverwaltung wurde der "Stadt in der Stadt" sogar eine eigene Postleitzahl zugeordnet: Houston TX 77230.
Hank Land (65) ist Volontär aus Überzeugung. "Seit einer Woche schon stehen meine Frau und ich mit dem Salvation Army-Imbisswagen auf dem Parkplatz vor dem ‚Astrodome‘ und versorgen Bedürftige mit gratis Wasser und Snacks", meint der pensionierte Militäroffizier, der als Rentner viel Zeit hat und eigens aus Oklahoma angereist kam. "Die freiwilligen Helfer behandeln uns hier wirklich gut", erzählt Wanda Washington (33), die mit ihrem 13-jährigen Sohn und ihrer Mutter hier Zuflucht gefunden hat. Sie sitzt in einer Ecke des Schlafsaals und wartet, bis ihr Mobiltelefon wieder aufgeladen ist. "Natürlich muss man sich um alles selber kümmern, aber es gibt so viele Menschen hier, die einem helfen."
"Ich sitze fast den ganzen Tag auf meinem Feldbett und passe auf, dass nichts weg kommt", erzählt Alfred Marshall, ein 46-jähriger Schiffskoch, der mit seiner Frau und seinem Sohn aus New Orleans gekommen ist. "Eine Journalistin hat uns vor vier Tagen Kleidung für unseren Sohn gebracht und unter unsere Decke gelegt, weil wir gerade nicht da waren. Als wir zurückkamen, war das meiste gestohlen", trauert er den Sachen nach, die er so dringend benötigt hätte. "Wir haben nicht einmal eine Hose für unseren Sohn, der nächste Woche hier in Houston wieder in die Schule gehen soll."
Im "Astrodome", der erst im Vorjahr als eines der vierzehn baufälligsten Gebäude von Texas bezeichnet wurde, ist auch die Verteilungsstelle für Kindersachen und Babynahrung untergebracht. Hier werden Kinderschuhe und Windeln ausgegeben, sogar Babynahrung zubereitet. "Für mich macht es am meisten Sinn hier zu arbeiten, weil das Lachen der Kinder mich angesichts dieser Tragödie aufheitert", meint Volontärin Rosa Garcia, die ihre wenigen Urlaubstage, die sie im Jahr hat, freiwillig im Flüchtlingslager zubringt.
Auf Höhe der ersten Tribüne des 100.000 Sitze umfassenden Stadiums patroullieren Hunderte Militärpolizisten. In den ersten Tagen nach der Naturkatastrophe, in denen die geschockten und müden Menschen im "Astrodome" Zuflucht gesucht haben, gab es unzählige Gewaltexzesse, sogar von Vergewaltigung und Mord ist die Rede. "Das unvorstellbare Chaos, das hier geherrscht hat, hat sich zum Glück vielfach gelegt", meint ein Polizist, der eigens von Philadelphia nach Houston versetzt wurde. "Nur am Abend gibt es hie und da Probleme."
Ab 20 Uhr, wenn es draußen langsam dunkelt, füllen sich die Schlafhallen mit Tausenden von Menschen. Die Erwachsenen kehren von ihren Erledigungen zurück, die Kinder vom Spielplatz. "Ich kann hier einfach nicht richtig schlafen, weil es zu laut und sie das Licht nicht abschalten", meint der 16-jährige Byron Clement aus Louisiana. "Ich will wieder in meinem eigenen Bett liegen. Hoffentlich können wir bald wieder nach Hause zurück."
